Die berauschende Kraft der Kunst
Sergej Münch versteht sich als Künstler und Alchemist. Seine Kunstwerke sind durch komplexe Produktionsverfahren individuell hergestellte Wodkas. Seine Materialien sind Spiritus und Wasser; seine Instrumente die Methoden der Vermischung beider Elemente und die so genannte Anreicherung: Wasser wird durch Spiritus und folgend Spiritus durch Wasser angereichert. »Spiritus und Wasser« stehen Sergej Münch für den Erhalt eines sinnerfüllten Lebens. Die Bedeutung des Wassers ist für die Natur und die Menschheit essenziell. Doch der Spiritus scheint auf den ersten Blick nicht lebensnotwendig zu sein. Wenn wir uns jedoch mit der Geschichte der Alchemie und explizit mit der Destillation befassen, werden wir feststellen, dass der Spiritus die geistige Essenz des Korns verkörpert. Korn wiederum steht für das Element Erde und ist das ursprüngliche Material für die Produktion von Brot, dessen höhe Wertschätzung in der Kultur der Menschheit axiomatisch ist. Somit operiert der Spirituosenkünstler Sergej Münch mit der stofflichen Ebene der Elemente Wasser und Erde, die durch seinen konzeptionellen und künstlerischen Ansatz auf die Metaebene gehoben werden. Seine Kunstwerke sind Ideen übertragender Medien, welche durch den Geschmackssinn wahrgenommen und genossen werden können.
Die Definition des Begriffes »Kunst« ist im 21. Jahrhundert beachtlich breit aufgestellt und unterliegt einem ständigen Wandel. Die Abhängigkeit von vielfältigen dynamischen Diskursen der Gegenwart und den sich immer weiter entwickelten Praktiken schliesst eine feste Definition des Begriffes aus. Dabei bleibt der Nucleus einer allgemeinen Kunstdefinition über Jahrhunderte aktuell: Die Kunst wird als eine schöpferische, auf keine bestimmte Funktion zielende Tätigkeit definiert, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition basiert. Mit dem Aufkommen von Medienkunst erweiterte sich der Kunstbegriff seit Joseph Beuys signifikant. Dieser unaufhörliche Prozess verspricht uns die Freude an der Entdeckung von bisher unbekannten Dimensionen der Kunst. Der von Sergej Münch entwickelte Kunstbegriff appelliert an einen für die klassische Kunstwahrnehmung ungewöhnlichen Wahrnehmungssinn – an den feinfühligen Geschmacksinn.
Bei seiner Produktion benutzt Sergej Münch die aus den biologischen und koscheren Rohstoffen - Roggen, Weizen und einer Mischung aus Saisongetreide - gewonnenen Spiritus. Der Düsseldorfer Rabbiner Chaim Barkahn hat bei seinem Besuch des Spirituosen-Ateliers die künstlerische Wodka-Produktion, sowie das Atelier selbst, nach dem Kaschrut Gesetz als koscher zertifiziert. Daraus folgt, dass nicht nur die stoffliche, sondern die metaphysische Ebene von Kunstwerken Sergej Münch’s als koscher angesehen werden können, sodass Sergej Münch als Erfinder und der erste Vertreter von »Koscherer Kunst« gelten darf.
Der Unterschied zwischen den bekannten Künstlern, die mit Spirituosen arbeiten – darunter sind Theo Ligthart und Sebastian Rauscher zu nennen - und dem Spirituosenkünstler Sergej Münch ist offenkundig. Sergej Münch beschäftigt sich nicht mit der künstlerischen Ausarbeitung einer Spirituose umgebenden »Hülle« – der Flasche, sondern die Spirituose selbst wird durch sein künstlerisches Konzept und den konkreten physikalischen Vorgang zur Kunst. Deshalb nennt er sich »Spirituosenkünstler«. Die »Hüllen« oder die »Rahmen« seiner Kunstwerke hält Sergej Münch neutral – das sind ganz schlichte schwarze Flaschen mit einem rubinroten oder hellgelben Etikett mit jeweils individueller Beschreibung, welches die Rolle einer Bildlegende übernimmt. Sein künstlerischer Anspruch besteht darin, die Zusammensetzung und die Struktur einer hochprozentigen Flüssigkeit zu gestallten, sie durch die speziellen Methoden der Vermischung mit Ideen anzureichern, der Spirituose die Schönheit zu verleihen und das Publikum sein Kunstwerk verkosten zu lassen. Die Schönheit wird nicht nur als eine ästhetische Komponente der Kunst verstanden, sondern als eine ihrer zentralen Eigenschaften und Qualitäten. Dieser Anspruch überführt seine Produktgestaltung auf der Ebene einer künstlerischen Auseinandersetzung mit menschlichen Rezeptionsmöglichkeiten und wird somit selbst zur Kunst.
Das Vokabular Sergej Münch’s Kreationen stellen die Vermischungsmethoden und der Prozess der Anreicherung dar. Bei seiner Arbeit »International Klein Blue« aus der Serie »Farben«, überführt er die von Yves Klein im Jahr 1960 erfundene und patentierte Farbe in die flüssige Form eines Wodkas. Dem französischen Künstler ging es darum, eine Farbe herzustellen, die eine besondere Ausstrahlungskraft besitzt, damit der Betrachter sie in sich hinein »aufsaugen« könnte. Der Wodka »International Klein Blue« von Sergej Münch macht das Aufsaugen im wörtlichen Sinne möglich. Er erarbeitet auf der Basis der RGB-Kodierung ein Verhältnis zwischen dem Spiritus und dem Wasser, reichert in dem ersten Vorgang den Spiritus mit dem Wasser in diesem bestimmten Verhältnis an, wiederholt den Vorgang bei dem er nun das Wasser mit dem Spiritus anreichert und mischt in Analogie zur Farbmischung die Ergebnisse beider Vorgänge zusammen. Als Resultat entsteht ein Kunstwerk, welches die Wirkung von International Klein Blue von Yves Klein durch den Geschmack des Wodkas »International Klein Blue« wahrnehmen lässt.
Ein anderes Beispiel ist sein Wodka »Schlucke des Lebens« aus der Serie »Performances«. Bei diesem Werk befasst sich Sergej Münch mit der Definition der Zeit und ihrem Verlauf. Er wendet sich an die Auseinandersetzungen der frühen Alchemisten und an derer Versuche, die Materie neue zu gestalten, um ihre Umwandelbarkeit zu beweisen. Er lässt das Wasser und den Spiritus abwechselnd in eine Flasche hinein tropfen. Jede Sekunde gleicht dabei einem Tropfen. In einer 1/2 Liter Flasche werden insgesamt 20. 000 Tropfen eingesammelt. Dieser Prozess dauert fünfeinhalb Stunden. Die daraus entstehende Spirituose lässt den Zeitverlauf in einer flüssigen, sinnerfüllten Form materialisieren und den Geschmack von jeder vergangenen Sekunde nachspüren. Mit diesem Werk wandelt Sergej Münch nicht die Materie, sondern die Zeit um. Die Vergangenheit löst sich nicht in einem unfassbaren »Nichts« auf, sondern sise wird gesammelt und zum Verkosten dargeboten.
Die gegenwärtigen politischen Verwerfungen analysiert Sergej Münch mit seinem Kunstwerk »BREXIT-WODKA« aus der Serie »Proportionen«. Als Idee seiner Kreation nimmt er das Verhältnis der Stimmen der britischen Bevölkerung des am 23. Juni 2016 stattgefundenen EU-Mitgliedschaftsreferendum. Die Befragung ergab »17 Millionen 410 Tausend und 742 Stimmen« für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union und »16 Millionen 141Tausend und 241 Stimmen« gegen den Austritt. Dieses Resultat zeigt sich in dem prozentualen Verhältnis als 51,89% zu 48,11%. Sergej Münch stellt ein Dyptychon her, welches die Wertschätzung jeder Stimme in der Stärke des Wodkas widerspiegelt: »BREXIT-WODKA-48,11/51,89« und »BREXIT-WODKA-51,89/48,11«. Die Erkenntnis, die aus diesem Kunstwerk gewonnen wird, ist die spürbare Stärke der Entscheidung der britischen Bevölkerung »für« bzw. »gegen« den Austritt aus der EU. Die Folgen eines Austrittes für die europäische Geschichte werden sich deutlicher verstehen lassen, wenn der »BREXIT-WODKA-51,89/48,11« mit der Stärke von 51,89% verkostet wird.
Das künstlerische Repertoire Sergej Münch’s erstreckt sich auf ca. 500 unterschiedliche Vermischungsmethoden. Aktiv wendet er momentan 100 davon an. Das Potenzial seiner Anreicherungspalette ist dabei unbegrenzt: Die Ideen, die Vorstellungskraft und die Schönheit der freien Kunst bilden hierfür die Quelle seiner unermesslichen Inspiration.
Durch den partizipatorischen Ansatz der Rezeption seiner Kunstwerke verdeutlicht Sergej Münch die für ihn entscheidende Qualität der Kunst – ihre Zugänglichkeit und ihre Fassbarkeit. Diese Kunst möchte probiert und genossen werden. Die unmittelbare Wirkung seiner hochprozentigen Kunst, die zunächst auf der physikalischen Ebene des menschlichen Körpers verspürt wird, wird durch eine allmähliche Bewusstwerdung auf die Metaebene überführt und wird dabei zu einer berauschenden Erkenntnis.
Prosit! Salute! Cheers! Za zdorovje!
Natalia Gershevskaya, Kunsthistorikerin
Zeitschrift „School of science“ 13 (2019), S. 38 – 39.